Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz “CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland” veröffentlicht. Autor/-in: Jens Kersten für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Das “Anthropozän” bringt den ökologischen Wandel unserer Welt auf den Begriff.[1] Wir leben in einem Zeitalter, in dem der Mensch selbst zu einer Naturgewalt geworden ist. Artensterben, Globalvermüllung und Klimawandel sind die Entwicklungen, die uns umdenken lassen. Fridays for Future, Klimapakete der Bundesregierung und ein New Green Deal für Europa sind aber nur politische Momentaufnahmen. Zu ihnen gehören auch die sogenannten Gelbwesten, die der Politik vor Augen geführt haben, wie schnell Klima- und Umweltschutz sozialpolitisch explosiv werden können. Wir kommen um eine Einsicht nicht herum: Wir müssen unser Leben ändern. Für eine Industriegesellschaft bedeutet dies, den Naturschutz in ihre sozialen, technischen und ökonomischen Infrastrukturen zu integrieren. Ein effektiver Weg für die Gestaltung dieses ökologischen Strukturwandels liegt in der Anerkennung der Rechte der Natur: Noch sehen wir in der Natur nur ein Objekt des Umweltschutzes. Doch wir sollten die Natur als ein Rechtssubjekt begreifen, das seine ökologischen Interessen selbst wahrnimmt und durchsetzt. Dies wäre nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine soziale, ökonomische und ökologische Revolution.
Unsere Verfassungsordnung versteht die Natur als ein Objekt, das wir bewahren müssen. Dieses Verständnis hat seinen Ausdruck in Artikel 20a Grundgesetz (GG) gefunden: “Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.” Die Staatszielbestimmung “Umweltschutz” wurde 1994 in das Grundgesetz aufgenommen und 2002 um den Tierschutz ergänzt. Sie reflektiert in ihrem Regelungsgehalt die ökologischen Debatten der 1970er Jahre, die in den 1980er Jahren mit den Grünen in den Bundestag eingezogen sind.
Allerdings ist dieses Staatsziel “Umweltschutz” in vielerlei Hinsicht auch ein Kompromiss. Zwar versteht Artikel 20a GG seinen Anwendungsbereich grundsätzlich weit. Die Regelung schützt neben den Tieren alle Umweltmedien: Boden und Wasser, Landschaften und Ökosysteme, Luft und Klima.[2] Doch nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers soll die Regelung die Natur – also die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere – “nur” objektiv-rechtlich schützen. Weder Natur noch Menschen können aus Artikel 20a GG also subjektive Rechte ableiten.[3] Folglich ist es insbesondere der Natur nicht möglich, ihren Schutz von Gesetzgebern und Verwaltungen rechtlich einzufordern oder vor den Gerichten einzuklagen. Vielmehr verdeutlicht Artikel 20a GG, welche Angst vor der Natur unserer Verfassungsordnung eingeschrieben ist. Denn eigentlich hätte es vollkommen genügt, in dieser Regelung festzuhalten, dass die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere zu schützen sind. Stattdessen fügt Artikel 20a GG noch hinzu, dass dies nur im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ordnung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die drei Gewalten erfolgen soll. Eigentlich ist das eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit. Dass der verfassungsändernde Gesetzgeber dies aber noch einmal ausdrücklich in Artikel 20a GG erwähnt, zeigt: Er befürchtet, dass die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere ein normatives Eigenleben in unserer Verfassungsordnung entwickeln könnten. Deshalb ergänzt er die Regelung des ökologischen “Objektschutzes” in Artikel 20a GG um diese verfassungsrechtliche “Angstklausel”, die vor allem zum Ausdruck bringt: Die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere sollen ein Objekt staatlichen Umweltschutzes, nicht aber ein Rechtssubjekt sein, das von der Rechtsordnung in die Lage versetzt wird, seine Interessen rechtlich selbst durchzusetzen.
Heute spielt der objektiv-rechtliche Schutz von Natur und Tieren in unserer Rechtsordnung sicherlich eine größere Rolle als noch in der klassischen Industriegesellschaft. Er ist vor allem in die Gesamt- und Fachplanung integriert, und er bestimmt auch das Arten-, Natur- und Landschafts-, das Wasser-, Immissions- und Klima- sowie das Umweltinformationsrecht. Allerdings verdanken wir dies weniger der Aufnahme des Staatsziels “Umweltschutz” in das Grundgesetz als vielmehr dem europäischen und internationalen Umweltrecht, das sich zu einem Impulsgeber und Schrittmacher des Naturschutzes entwickelt hat. So resümiert der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle vollkommen zu Recht: “Welchen Beitrag leistet das Grundgesetz zum Umweltschutz? Nüchtern ist festzuhalten: Der Befund ist eher mager!”[4]
Angesichts der ökologischen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, gilt dieser Befund auch mit Blick auf die zentralen Konzepte, die sich im Kontext des Artikel 20a GG entwickelt haben: die Risikogesellschaft und das Nachhaltigkeitsprinzip.
Das Konzept der Risikogesellschaft wurde nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 zunächst durch den Soziologen Ulrich Beck profiliert[5] und sodann zur Beschreibung einer Weltrisikogesellschaft weiterentwickelt:[6] Die ökologischen Risiken sind – so Becks Grundthese – für unsere Gesellschaft zu risikoreich geworden. Das Problem dieser inzwischen schon sprichwörtlichen Rede von der “Risikogesellschaft” liegt jedoch darin, dass wir uns längst an sie gewöhnt haben. Ja, schlimmer noch: Wir nehmen ganz handfeste Gefahren und bereits eingetretene Störungen wie das Artensterben und den Klimawandel, die globale Vermüllung und die atomare Verseuchung “nur” als Risiken wahr, also als Ereignisse, deren Eintritt nicht wahrscheinlich, aber auch nicht vollkommen ausgeschlossen ist. Dies ist jedoch eine Fehlwahrnehmung: Wir leben nicht in einer Weltrisikogesellschaft, sondern in einer globalen Gefahrengemeinschaft, in der sich die Naturzerstörung längst realisiert (hat).
Das Prinzip der Nachhaltigkeit entstammt ursprünglich der Ressourcenbewirtschaftung des 17. und 18. Jahrhunderts.[7] Über den sogenannten Brundtland-Bericht “Our Common Future” von 1987 hat es sich zu einem globalen ethischen und rechtlichen “Weltprinzip” entwickelt: “Sustainable Development seeks to meet the needs and aspirations of the present without compromising the ability to meet those of the future”, heißt es darin. Heute herrscht ein dreidimensionales Begriffsverständnis von Nachhaltigkeit vor: Es soll ein angemessener und damit verhältnismäßiger Ausgleich von sozialen, ökonomischen und ökologischen Interessen hergestellt werden, der zugleich auch die Interessen künftiger Generationen berücksichtigt (Drei-Säulen-Konzept).[8] Doch so begrüßenswert die Entwicklung des Nachhaltigkeitsgrundsatzes zu einem Prinzip globaler Ethik auch sein mag, darf man auch dessen grundlegendes Problem nicht übersehen: Über das progressive Artensterben, den dynamischen Klimawandel, die Vermüllung des Landes und der Meere sowie den Umgang mit Atommüll lässt sich schlicht nichts Nachhaltiges sagen. In diesen – wie in vielen weiteren – Bereichen haben wir längst den Punkt verpasst, an dem das letztlich konservative Nachhaltigkeitsprinzip noch hätte greifen können.
Angesichts unserer ökologischen Entgleisungen stößt also der Schutz der Natur als Objekt an seine Grenzen: Was sollen wir tun, wenn das Risikokonzept wirklich zu risikoreich, also schlicht gefährlich wird? Und genügt das Nachhaltigkeitsprinzip, um noch angemessen auf diese ökologischen Gefahren und Störungen zu reagieren? Diese Fragen müssen wir beantworten, wenn Max Webers Prophezeiung nicht eintreten soll: “Als ich einmal” – so berichtet dessen Zeitgenosse Werner Sombart – “mit Max Weber über die Zukunftsaussichten sprach und wir die Frage aufwarfen: wann wohl der Hexensabbat ein Ende nehmen würde, den die Menschheit in den kapitalistischen Ländern seit dem Beginne des 19. Jahrhunderts aufführt, antwortete er: ‚Wenn die letzte Tonne Erz mit der letzten Tonne Kohle verhüttet sein wird.‘”[9] Doch dann ist es zu spät. Wir müssen also schon jetzt anders ansetzen: Welche Gesellschaft folgt auf die Risikogesellschaft? Und: Was kommt nach der Nachhaltigkeit?
Die Verfassung des Anthropozän sollte die Natur als ein Rechtssubjekt begreifen, das seine Rechte selbstständig einfordern, einklagen und durchsetzen kann.[10] So hat bereits Ecuador die Natur als Rechtssubjekt verfassungsrechtlich anerkannt und ihr auf dieser Grundlage auch Rechte zugesprochen:[11] “Nature shall be the subject of those rights that the Constitution recognizes for it”, heißt es in Artikel 10 Absatz 2 der Ecuadorianischen Verfassung. “Nature, or Pacha Mama, where life is reproduced and occurs, has the right to integral respect for its existence and for the maintenance and regeneration of its life cycles, structure, functions and evolutionary processes. All persons, communities, peoples and nations can call upon public authorities to enforce the rights of nature. To enforce and interpret these rights, the principles set forth in the Constitution shall be observed, as appropriate. The State shall give incentives to natural persons and legal entities and to communities to protect nature and to promote respect for all the elements comprising an ecosystem”, heißt es weiter in Artikel 71.
Darüber hinaus werden von Argentinien, Kolumbien und in den USA die Rechte von Tieren und in Ecuador, Indien, Kolumbien und Neuseeland die Rechte von Flüssen vor Gericht berücksichtigt.[12] In diesen verfassungsrechtlichen Regelungen und Praktiken wird die Natur als ein Subjekt begriffen – juristisch ausgedrückt: als ein Rechtssubjekt.
Rechtssubjektivität ist die aktive Rolle, die eine Person in einem Rechtssystem spielen kann:[13] Es handelt sich um einen Rechtsstatus, der es einer Person erlaubt, als Subjekt am Rechtsverkehr teilzunehmen, Träger von Rechten und Adressat von Pflichten zu sein, vor Gericht klagen zu können, aber auch verklagt zu werden. Dabei haben Rechtsordnungen verschiedene Formen von Rechtssubjektivität ausdifferenziert: Menschen sind als “natürliche Personen” Rechtssubjekte. Aber auch soziale und wirtschaftliche Zusammenschlüsse oder schlichte Vermögens- und Kapitalmassen können in Form einer “juristischen Person” als Rechtssubjekte anerkannt werden. Diese Typologie der natürlichen und juristischen Personen zeigt unmittelbar, dass nicht alle Rechtssubjekte über die gleichen Rechte und Pflichten verfügen, sondern sich in ihren Rechten und Pflichten unterscheiden: Ein erwachsener Mensch hat andere Rechte und Pflichten als ein Kind. Menschen verfügen wiederum über andere Rechte und Pflichten als Vereine oder Handelsgesellschaften, für die eine Rechtsordnung abermals unterschiedliche Rechte und Pflichten ausdifferenziert. Dies bedeutet aber zugleich: Rechtsubjektivität ist kein absoluter, sondern immer nur ein relativer Status. Eine natürliche oder juristische Person wird durch eine Gesamtheit von Rechten und Pflichten konstituiert, die sie mit anderen Rechtssubjekten verbindet. Deshalb ist Rechtssubjektivität zugleich auch immer relational: Sie entfaltet sich in Rechtsbeziehungen, die in Form von Rechten und Pflichten zwischen Rechtssubjekten bestehen. Dieser relative und relationale Charakter von Rechtssubjektivität begründet zugleich die aktive Rolle, mit der Rechtssubjekte die Rechtsordnung dynamisieren. Der Staatsrechtler Georg Jellinek hat dies in das schöne Bild gefasst, dass subjektive (öffentliche) Rechte einer natürlichen oder juristischen Person erlauben, die Rechtsordnung im eigenen oder fremden Interesse in Bewegung zu setzen:[14] Rechtssubjekte können Verträge schließen und durchsetzen. Sie sind in der Lage, sich mit einer Petition an den Gesetzgeber zu wenden, einen Antrag bei einer Behörde zu stellen und ihre Rechte vor Gerichten einzuklagen. In der Ausfüllung dieser aktiven Rolle müssen die Rechtssubjekte nicht notwendigerweise selbst handeln. Sie können sich auch vertreten lassen, beispielsweise nicht geschäftsfähige Personen durch ihre Vertreterinnen und Vertreter, Vereine und Gesellschaften durch ihre Geschäftsführung oder ihren Vorstand.
Einer Rechtsordnung steht es grundsätzlich frei, wen oder was sie als ein Rechtssubjekt anerkennt. In einer schlicht funktionalen Perspektive differenzieren Rechtsordnungen immer dann Rechtssubjekte aus, wenn dies den Rechtsverkehr unter Rechtssubjekten erleichtert. Doch es kommt nicht nur auf diese funktionale Perspektive an. Auch die Verfassung entscheidet darüber, wer ein Rechtsubjekt ist und über welche Rechte und Pflichten dieses Rechtssubjekt verfügt. So erkennt das Grundgesetz mit der Gewährleistung der Menschenwürdegarantie an, dass jeder Mensch als natürliche Person ein Rechtssubjekt ist: “Die Würde des Menschen ist unantastbar” lautet Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 GG; “Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt” Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 GG. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Diktatur und Gewaltherrschaft, der Shoa und dem deutschen Vernichtungskrieg legt Artikel 1 Absatz 1 GG fest, dass kein Mensch zum bloßen Objekt gemacht werden darf. Aufgrund der Menschenwürdegarantie sind alle Menschen in der Bundesrepublik als Rechtssubjekte anerkannt, die ganz im Sinne Hannah Arendts aufgrund Artikel 1 Absatz 1 GG über ein “Recht auf Rechte” verfügen.[15]
Dieses verfassungsrechtliche Versprechen wird sodann unmittelbar durch die Grundrechtsgewährleistungen eingelöst, insbesondere durch Artikel 2 bis 19 GG. Das Grundgesetz misst aber nicht nur natürlichen, sondern auch juristischen Personen Grundrechte zu: “Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind”, lautet Artikel 19 Absatz 3 GG. Soweit sich also die deutsche Rechtsordnung dazu entschließt, eine soziale oder wirtschaftliche Entität als juristische Person anzuerkennen, verfügt diese aufgrund von Artikel 19 Absatz 3 GG “automatisch” auch über Grundrechte, soweit sich für sie eine grundrechtsgleiche Gefährdungslage ergibt. Auf diese Weise können sich etwa Unternehmen als Rechtssubjekte auf die Berufsfreiheit (Artikel 12 Absatz 1 GG) und die Eigentumsgarantie (Artikel 14 Absatz 1 GG) berufen, um ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen.
Angesichts der ökologischen Herausforderungen ist eines klar: Diese Verteilung von Rechtssubjektivität durch das Grundgesetz ist nicht mehr zeitgemäß. Menschen und Unternehmen können als Rechtssubjekte ihre individuellen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen unmittelbar selbst durchsetzen. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn es um die Zerstörung der Umwelt und die Tötung von Tieren geht. Demgegenüber verfügt die Natur nach dem vorherrschenden Verständnis des Artikel 20a GG über keine Rechtssubjektivität. Zwar muss die Natur aufgrund dieser ökologischen Staatszielbestimmung geschützt werden. Doch dieser Schutz bleibt hinter den rechtlichen Möglichkeiten zurück, die sich der Natur eröffnen würden, wenn sie ihre ökologischen Interessen als Rechtssubjekt selbst durchsetzen könnte. Zugespitzt formuliert: Es ist schlicht unfair, wenn wirtschaftlichem Kapital Rechte zustehen, der Natur aber nicht.
Die normative Leerstelle, die die fehlende Anerkennung der Rechte der Natur in unserer Rechtsordnung bedeutet, wird auch unmittelbar deutlich, wenn man sich noch einmal den dreidimensionalen Nachhaltigkeitsbegriff in Erinnerung ruft. Dieser soll einen angemessenen Ausgleich zwischen sozialen, ökonomischen und ökologischen Interessen herstellen. Doch während soziale und ökonomische Interessen von Rechtssubjekten selbst verfolgt werden können, werden ökologische Interessen nur objektiv-rechtlich geschützt. Erst wenn auch die Natur über Rechtssubjektivität verfügt und ihre ökologischen Interessen selbst durchsetzen kann, wird juristische “Waffengleichheit” hergestellt, die dem Gebot der Fairness genügt. Auf diese Weise könnte der Nachhaltigkeitsgrundsatz durch die Anerkennung der Rechte der Natur vielleicht doch neue politische und rechtliche Impulse für die Verfassung des Anthropozän entfalten.
Wie kann aber nun unsere Verfassungsordnung die Rechtssubjektivität der Natur anerkennen und die Rechte der Natur ausdifferenzieren? Durch Auslegung des Grundgesetzes sind zwei Wege denkbar:
Der erste Weg knüpft unmittelbar an Artikel 20a GG an. Wir haben bereits gesehen, dass sich aus dieser Regelung nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers keine verfassungsunmittelbaren Rechte für die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere ergeben sollen. Doch dies hindert den einfachen Gesetzgeber nicht, diesen objektiv-rechtlichen Verfassungsauftrag des Umweltschutzes subjektiv-rechtlich umzusetzen.[16] Das bedeutet: Der Gesetzgeber wird durch Artikel 20a GG nicht gehindert, der Natur zum Beispiel im Naturschutzgesetz oder den Tieren beispielsweise im Tierschutzgesetz Rechtssubjektivität zu verleihen. Auf dieser Grundlage könnte der Gesetzgeber die Rechte der Natur beziehungsweise der Tiere auf Integrität und Selbstentfaltung weiter ausdifferenzieren. Dies wäre ein praktisch unmittelbar gangbarer Weg, der allerdings nicht auf der verfassungsrechtlichen, sondern auf der einfachgesetzlichen Ebene die Rechtssubjektivität der Natur entfalten würde.
Der zweite Weg stellt die Natur den juristischen Personen gleich. Ganz in diesem Sinn hat der Rechtswissenschaftler Andreas Fischer-Lescano vorgeschlagen, dass sich die in Artikel 20a GG verfassungsrechtlich anerkannten natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere nach Artikel 19 Absatz 3 GG wie juristische Personen auf die Grundrechte berufen können, die wesensmäßig auf sie anwendbar sind.[17] Das Problem dieser Auffassung besteht darin, dass Artikel 20a GG nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers den natürlichen Lebensgrundlagen und den Tieren keine verfassungsunmittelbaren Rechte vermitteln sollte. Doch das schließt nicht aus, dass diese innovative und zukunftsweisende Argumentation Fischer-Lescanos über das Institut des Verfassungswandels Anerkennung findet, wenn sich Artensterben, Globalvermüllung und Klimawandel immer weiter zuspitzen.[18]
Die Anerkennung der Rechtssubjektivität der Natur durch Verfassungsauslegung ist also durchaus möglich. Doch aufgrund der verbleibenden Unwägbarkeiten würde eine Verfassungsänderung, die die Rechtssubjektivität und Rechte der Natur ausdrücklich anerkennt, größere Klarheit bringen. Dem Gesetzgeber steht insofern eine Reihe von Regelungsmöglichkeiten zur Verfügung, von denen im Folgenden zwei näher erörtert werden sollen.
Erstens könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber eine Regelung in das Grundgesetz aufnehmen, welche die Rechte der Natur ausdrücklich anerkennt: “Die Rechte der Natur sind zu achten und zu schützen.” Dabei könnte die Begründung dieser Grundgesetzänderung festhalten, dass der Begriff der “Natur” weit zu verstehen ist und deshalb Tiere, Pflanzen und Umweltmedien umfasst. Damit würde das Grundgesetz an Regelungen anknüpfen, die sich bereits in Landesverfassungen finden. Nach Artikel 31 Absatz 2 der Verfassung von Berlin sind Tiere als Lebewesen zu achten und vor vermeidbarem Leiden zu schützen. Und Artikel 39 Absatz 3 der Brandenburgischen Verfassung geht noch einen Schritt weiter: Tiere und Pflanzen werden als Lebewesen geachtet. Art und artgerechter Lebensraum sind zu erhalten und zu schützen. Zwar könnte man auf die Idee kommen, auch diese landesverfassungsrechtlichen Regelungen und die für das Grundgesetz vorgeschlagene Formulierung ebenfalls nur als objektiv-rechtliche Staatszielbestimmungen zu verstehen. Doch dies überzeugt nicht. Denn das Grundgesetz erkennt mit der Verwendung des Begriffs der “Achtung” eines Rechts in der Regel eine subjektiv-rechtliche Rechtsposition an. Ein Beispiel hierfür ist die Menschenwürdegarantie. Die Würde des Menschen ist nach Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 GG (als subjektives Recht) zu achten und (objektiv-rechtlich) zu schützen. Auf der Grundlage einer solchen Anerkennung der Rechtssubjektivität der Natur wäre es dem Gesetzgeber möglich, deren Rechte auf Integrität und Entfaltung weiter auszudifferenzieren.
Zweitens könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber aber auch eine an Artikel 19 Absatz 3 Grundgesetz orientierte Regelung in das Grundgesetz aufnehmen: “Die Grundrechte gelten auch für die Natur, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.” Auch hier wäre in der Begründung der Verfassungsänderung klarzustellen, dass der Begriff der “Natur” weit zu verstehen ist und damit Tiere, Pflanzen und Umweltmedien umfasst. Dieser zweite Regelungsvorschlag würde sehr viel weiter als die soeben genannte erste Regelungsalternative gehen. Denn mit einer solchen Formulierung würde das Grundgesetz nicht nur die Rechtssubjektivität, sondern auch die Rechte der Natur unmittelbar auf verfassungsrechtlicher Ebene ausgestalten. Wie im Fall von juristischen Personen – also beispielsweise von Wirtschaftsunternehmen – wäre in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Grundrechte ihrem Wesen nach auch auf die Natur anwendbar sind. Insofern kommen beispielsweise in Betracht: die Entfaltungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 GG), Leben und körperliche Integrität (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG), Bewegungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG), Gleichheit (Artikel 3 Absatz 1 GG) und die Unverletzlichkeit der ökologischen Wohnung, also von Ökosystemen (Artikel 13 Absatz 1 GG). Darüber hinaus ist es auch grundsätzlich möglich, dass die Natur wirtschaftliche Freiheiten für sich in Anspruch nehmen könnte, also insbesondere die Berufsfreiheit (Artikel 12 Absatz 1 GG) und Eigentumsgarantie (Artikel 14 Absatz 1 GG). So wäre es beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass etwa Tiere oder Landschaften ihren eigenen Naturpark wirtschaftlich betreiben, der in ihrem Eigentum steht. Das mag zwar auf den ersten Blick (noch) ungewohnt erscheinen, ist aber in der juristischen Konstruktion keineswegs ausgeschlossen. Auch die Inanspruchnahme von grundrechtsgleichen Justizgewährleistungsrechten ist der Natur problemlos möglich. Dies gilt insbesondere für die Garantie des effektiven Rechtschutzes (Artikel 19 Absatz 4 GG), die Geltendmachung einer Verfassungsbeschwerde (Artikel 93 Absatz 1 Nummer 4a GG) sowie das Recht auf den gesetzlichen Richter (Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG) und auf rechtliches Gehör (Artikel 103 Absatz 1 GG).
Die Anerkennung der Rechtssubjektivität der Natur darf jedoch nicht zu dem Fehlschluss führen, dass die Rechte der Natur im Konflikt mit sozialen oder wirtschaftlichen Interessen stets überwiegen würden. Für die Natur gelten insofern die gleichen Grundsätze, die auch bei Menschen oder Unternehmen Anwendung finden: Wenn zwei oder mehrere Rechte miteinander kollidieren, findet eine Abwägung statt. In diesem Fall ist unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ein angemessener Ausgleich zwischen den konfligierenden Rechtspositionen und Rechtssubjekten herzustellen. Nach dem Grundgesetz gilt nur ein Grundrecht absolut und ist damit jeder Form der Abwägung entzogen: die Menschenwürdegarantie (Artikel 1 Absatz 1 GG). Auf diese kann sich die Natur nicht berufen, weil sie Menschen vorbehalten ist. Für die Abwägung der Rechte der Natur mit sozialen oder wirtschaftlichen Interessen werden sich neue Abwägungsregeln entwickeln. So sind beispielweise Regressionsverbote denkbar, wenn die Zerstörung eines unwiederbringlichen Ökosystems im Raum steht. In der Abwägung können sich aber auch Entwicklungs- und Progressionsgebote entfalten, wenn es etwa um die Steigerung der Resilienz eines Ökosystems geht. Es versteht sich von selbst, dass in diesen Abwägungen aber die Interessen von Menschen ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen: Auch wenn ein Tierpark in Zukunft den Tieren gehören sollte, können diese nicht schlicht die Tierpflegerinnen und Tierpfleger entlassen, wenn das zu einer Gefährdung von Menschen führen würde. Vielmehr stellt sich in der Abwägung die Frage, ob die Tiere ihren Park mit den von ihnen eingenommenen Mitteln nicht so gestalten wollen, dass es ihrer tierlichen Persönlichkeit besser entspricht, und welche Entlassungen in die freie Wildbahn in Betracht kommen.
Rechte sind der Schlüssel zur modernen Gesellschaft. Deshalb liegt die Antwort auf die ökologischen Herausforderungen des Artensterbens, der Globalvermüllung und des Klimawandels nicht in einer Kritik der Rechte, sondern in einer verfassungsmäßig verankerten Anerkennung der Rechte der Natur – als Ausdruck eines neuen ökologischen Liberalismus im Anthropozän.[19]
1.Vgl. Paul Crutzen, Geology of Mankind, in: Nature 415/2002, S. 23; Jens Kersten, Das Anthropozän-Konzept. Kontrakt – Komposition – Konflikt, Baden-Baden 2014, S. 15–20.2.Vgl. Hans D. Jarass, in: ders./Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, München 201815, Artikel 20a, Rn. 3.3.Vgl. Bundestagsdrucksache 12/6000, S. 67.4.Andreas Voßkuhle, Umweltschutz und Grundgesetz, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1/2013, S. 1–8, hier S. 8.5.Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, S. 7ff., S. 25ff., S. 67ff., S. 300ff.6.Vgl. ders., Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt/M. 2007, S. 19ff., 24ff.; ders., Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen: Soziologische Aufklärung im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2008, S. 55f.7.Vgl. Christof Mauch, Mensch und Umwelt. Nachhaltigkeit aus historischer Perspektive, München 2014, S. 21–30.8.Vgl. Wolfgang Kahl, Einleitung: Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, in: ders. (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, Tübingen 2008, S. 1–35, hier S. 8–12.9.Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. III/2, Berlin 1928, S. 1010. Vgl. ferner Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 19889, S. 17–206, hier S. 203.10.Vgl. bereits klassisch Christopher D. Stone, Should Trees Have Standing? Toward Legal Rights for Natural Objects, in: Southern California Law Review 45/1972, S. 450–501.11.Für die ecuadorianische Verfassung im englischen Volltext siehe http://pdba.georgetown.edu/Constitutions/Ecuador/english08.html«. Vgl. ferner Andreas Gutmann, Pachamama als Rechtssubjekt? Rechte der Natur und indigenes Denken in Ecuador, in: Zeitschrift für Umweltrecht 11/2019, S. 611–617.12.Vgl. Andreas Fischer-Lescano, Natur als Rechtsperson. Konstellationen der Stellvertretung im Recht, in: Zeitschrift für Umweltrecht 4/2018, S. 205–216, hier S. 206f.; Anna Leah Tabios Hillebrecht/María Valeria Berros (Hrsg.), Can Nature Have Rights? Legal and Political Insights, Rachel Carson Center Perspectives 6/2017.13.Jens Kersten, Relative Rechtssubjektivität. Über autonome Automaten und emergente Schwärme, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 1/2017, S. 8–25.14.Vgl. Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Tübingen 19052, S. 51, S. 56f.15.Vgl. Hannah Arendt, Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 1949, S. 754–770, hier S. 760.16.Vgl. Michael Kloepfer, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2019200, Artikel 20a, Rn. 101f.17.Vgl. Fischer-Lescano (Anm. 12), S. 213f.18.Vgl. zum Verfassungswandel Ulrich Becker/Jens Kersten, Phänomenologie des Verfassungswandels. Eine verfassungstheoretische und rechtsdogmatische Perspektiverweiterung anlässlich der demografischen Entwicklung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 1/2016, S. 1–39.19.Vgl. Jens Kersten, Ökologischer Liberalismus. Der anthropozäne Wandel der Welt, in: Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht 4/2016, S. 312–323.
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