Ontozentrismus

Ontozentrismus bezeichnet ein neues Verständnis von Recht und Mitwelt. Das Recht wird nicht länger als äußere Macht über „die Natur“ verstanden, sondern als lebendiges Teilsystem der Mitwelt, das auf seine ökologische Grundlage reagiert. Der Begriff wurde 2025 von Hans Leo Bader geprägt und bildet die theoretische Basis für eine ökologische Rechtsordnung – und für die Systemische Rechtsentwicklung.

In 30 Sekunden:
Ontozentrismus heißt: Das Recht vergisst nicht, wovon es lebt. Wenn Moore entwässert werden, Flüsse überhitzen oder Städte sich aufheizen, verliert der Staat Stück für Stück seine Grundlage. Ontozentrismus sagt: Schütze zuerst die Lebensgrundlagen – dann funktioniert der Rest.

Ontozentrismus heißt: Das Recht ist Teil der Mitwelt und schützt die Funktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen, aus denen es selbst hervorgeht – nicht „die Natur“ als bloßes Objekt.

Ontozentrismus – ein neues Verständnis von Recht und Mitwelt

Ontozentrismus beschreibt das Recht als Teil der Mitwelt – nicht als Macht über sie. Der Begriff verbindet Philosophie, Ökologie und Verfassungsrecht zu einem neuen Verständnis von Staat und Verantwortung: Das Recht schützt nicht mehr nur vor der Natur, sondern mit ihr – es sichert die Funktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen, aus denen es selbst hervorgeht.

Ontozentrismus steht für einen Paradigmenwechsel: Recht wird nicht länger als äußeres Steuerungsinstrument verstanden, sondern als lebendiges System, das auf seine ökologische Grundlage reagiert. So entsteht eine lernfähige Rechtsordnung, die auf das Leben selbst bezogen ist – und nicht nur auf menschliche Interessen.

In der Systemischen Rechtsentwicklung dient der Ontozentrismus als verbindendes Prinzip. Die Bürgerinitiative „Rechte der Natur – Bayern“ ist eine ihrer praktischen Anwendungen – neben weiteren Verfahren, die Art. 20a GG als Funktionsprinzip der Mitwelt ernst nehmen.

Begriffliche Herleitung

Der Begriff Ontozentrismus leitet sich aus dem Griechischen ónton (das Seiende) und kéntron (Mitte) ab. Wörtlich bedeutet er „Ausrichtung auf das Sein“. Damit grenzt sich Ontozentrismus von bekannten Positionen wie Anthropozentrismus, Biozentrismus oder Ökozentrismus ab:

  • Nicht der Mensch allein steht im Zentrum,
  • nicht „das Leben“ als rein biologische Kategorie,
  • und auch nicht „das Ökosystem“ als bloßes Schutzobjekt.

Im Mittelpunkt steht das Sein – das gemeinsame Wirkgefüge, in dem alle Lebensformen verankert sind. Philosophisch knüpft der Ontozentrismus an eine Linie an, die von Aristoteles über Heidegger und Hans Jonas bis zu Bruno Latour reicht: Sein wird nicht als Besitz, sondern als Beziehung verstanden. Der Ontozentrismus übersetzt diesen Gedanken in die Sprache des Rechts.

Warum Ontozentrismus? – Die ökologische Katastrophe als Rechtsproblem

Was heute als ökologische Katastrophe beschrieben wird, ist auch eine Krise des Rechtsverständnisses. Ein Rechtssystem, das die natürlichen Lebensgrundlagen nur als „Schutzobjekte“ behandelt, verliert den Kontakt zu seiner eigenen Existenzgrundlage.

Klassische Umweltgesetzgebung reagiert meist auf Schäden, die bereits eingetreten sind. Sie schützt Einzelobjekte – Flächen, Arten, Emissionswerte – ohne die Funktionsfähigkeit des Ganzen in den Blick zu nehmen. Ontozentrismus setzt hier an:

  • Die Mitwelt ist keine äußere „Umwelt“, sondern Bedingung der Rechtsordnung selbst.
  • Die zentrale Frage lautet nicht: „Was darf der Mensch der Natur antun?“, sondern: „Wie muss das Recht beschaffen sein, damit die Lebensgrundlagen, aus denen es entsteht, erhalten bleiben?“

Ontozentrismus verschiebt den Fokus: vom Objektschutz zur Mitweltbeziehung, vom nachträglichen Verbot zur vorausschauenden Funktionssicherung.

Ein Beispiel:
Wenn ein Moor entwässert wird, um eine Straße zu bauen, lautet die klassische Frage: „Ist das rechtlich erlaubt?“ – also: Sind alle Vorgaben, Fristen und Grenzwerte eingehalten?

Der Ontozentrismus stellt eine andere erste Frage: Verliert der Staat dadurch eine unverzichtbare Lebensgrundlage? Also: Wasserspeicher, Kühlung, CO₂-Senke, Lebensraum. Wenn diese Funktionen zerstört werden, verliert nicht nur „die Natur“ etwas, sondern das Rechtssystem seine eigene Stabilitätsbasis.

Aus dieser Perspektive wird deutlich: Ontozentrismus ist keine zusätzliche Moral, sondern eine Funktionsfrage an das Recht: „Kann ein Staat auf Dauer funktionieren, wenn er die Systeme zerstört, die seine Grundlagen tragen?“

Ontozentrismus und Verfassungsrecht (Art. 20a GG)

Im deutschen Kontext ist Art. 20a GG der zentrale Berührungspunkt:

„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen…“

Ontozentrismus liest diese Norm nicht als unverbindlichen Programmsatz, sondern als Selbstbezug des Rechts:

  • Die Geltung des Rechts hängt von der Stabilität der ökologischen Systeme ab, in denen es wirkt.
  • Ein Staat, der seine natürlichen Lebensgrundlagen zerstört, gefährdet die Funktionsfähigkeit seiner eigenen Rechtsordnung.

Damit wird Art. 20a GG zur Funktionsnorm: Der Staat ist nicht nur politisch aufgefordert, die Mitwelt zu schützen, sondern systemisch darauf angewiesen. Ontozentrismus macht diese Abhängigkeit sichtbar – und begründet so die Pflicht, ökologische Funktionszusammenhänge in Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung ernst zu nehmen.

Ontozentrismus im Recht – Funktionsschutz als Prüfmaßstab

Ontozentrismus wird im juristischen Alltag konkret, wenn das Recht nicht nur Einzelinteressen abwägt, sondern die Funktionsfähigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen als eigene Bezugsgröße prüft. Das hat praktische Folgen für Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung:

  • Präventive Anwendung von Art. 20a GG: Entscheidungen sollen nicht nur Schäden verwalten, sondern Risiken für Lebensgrundlagen vorausschauend minimieren.
  • Funktionsschutz statt Objektschutz: Im Mittelpunkt steht nicht das einzelne Schutzobjekt, sondern das Zusammenspiel von Wasserhaushalt, Boden, Klima, Arten und menschlichen Lebensräumen.
  • Systemische Prüffragen: Welche Funktionen eines Gebietes oder Systems sind unverzichtbar? Welche Maßnahmen gefährden diese Funktionen – auch schleichend?
  • Verwaltung als lernfähiges System: Behörden reagieren nicht nur auf Klagen, sondern nutzen Hinweise und Eingaben als Anlass, ihr Handeln im Lichte von Art. 20a GG zu überprüfen.

In diesem Sinn ist Ontozentrismus kein zusätzlicher Paragraf, sondern ein Prüfmaßstab: Er erinnert das Recht daran, dass seine Geltung an die Stabilität der Mitwelt gebunden ist.

Ontozentrismus – das verbindende Prinzip der Systemischen Rechtsentwicklung

Ontozentrismus bildet die theoretische Grundlage der Systemischen Rechtsentwicklung – einer Methode, mit der Bürger:innen Art. 20a GG präventiv im Verwaltungsvollzug aktivieren.

„Ontozentrismus heißt: Das Leben ist nicht Objekt des Rechts, sondern sein Ursprung.“

Er gleicht eine zentrale Asymmetrie moderner Ordnungen aus: Ökonomische Deutungen des Grundgesetzes gelten als selbstverständlich – die ökologische Dimension des Art. 20a GG muss sich bis heute erklären. Ontozentrismus stellt diese Ordnung auf die Füße: Er erkennt, dass Rechtssystem und Bewusstsein Teil derselben Wirklichkeit sind und dass der Staat nicht von außen ordnet, sondern als Teil des Systems, von dem er abhängt.

So wird das Recht lernfähig: Es erkennt, dass es nicht über der Mitwelt steht, sondern aus ihr hervorgeht. Ontozentrismus ist damit ein Funktionsprinzip ökologischer Rechtsentwicklung – und der Rahmen, in dem Volksbegehren, Systemische Rechtsentwicklung und weitere Verfahren zu Art. 20a GG zusammengehören.

Praktische Anwendungen

Ontozentrismus ist keine abstrakte Theorie, sondern Grundlage konkreter Verfahren:

  • Bürgerinitiative „Rechte der Natur – Bayern“
    Volksbegehren-Entwürfe zur Verankerung von Mitweltbezug und Funktionsschutz in der Landesverfassung.
  • Systemische Eingaben nach § 13 VwVfG / Art. 20a GG
    z. B. zu Tagebauen, Moor- und Flusslandschaften, Großprojekten der Infrastruktur.
  • Rechtspolitische Stellungnahmen
    etwa zur Reform des Umweltstrafrechts – Integration von Funktionsschutz und ökologischer Integrität in strafrechtliche Schutzgüter.

In all diesen Fällen dient Ontozentrismus als stiller Maßstab: Das Recht wird daran gemessen, ob es die Lebensgrundlagen schützt, aus denen es selbst hervorgeht.

Für wen ist Ontozentrismus gedacht?

Ontozentrismus richtet sich an Menschen und Institutionen, die sich fragen, wie Recht in Zeiten der ökologischen Katastrophe weiterentwickelt werden kann:

  • Jurist:innen und Verwaltung, die Art. 20a GG nicht nur zitieren, sondern in Entscheidungen übersetzen wollen.
  • Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die nach einer Sprache suchen, in der Mitwelt, Staat und Recht zusammen gedacht werden können.
  • Initiativen und Kommunen, die praktische Wege brauchen, um Lebensgrundlagen vor Ort präventiv zu sichern.

Wer vor allem wissen will, was konkret getan werden kann, findet die Praxisfälle auf der Seite zur Systemischen Rechtsentwicklung – dort wird der Ontozentrismus ins Verwaltungshandeln übersetzt.

Kurzdefinition Ontozentrismus

Ontozentrismus ist ein 2025 von Hans Leo Bader geprägter Begriff der ökologischen Rechtsphilosophie. Er beschreibt ein Rechtsverständnis, in dem das Recht als Teil der Mitwelt verstanden wird und seine eigene ökologische Grundlage schützt. Statt „die Natur“ als Objekt zu regulieren, sichert ein ontozentrisches Rechtssystem die Funktionsfähigkeit der Lebensgrundlagen – und damit seine eigene Zukunftsfähigkeit.