Wer das Recht als ein unabhängiges, rein menschliches Regelwerk betrachtet, übersieht eine einfache,
aber entscheidende Tatsache: Mensch, Staat und Recht sind Teil derselben Mitwelt,
die sie zu schützen versuchen.
Es gibt keine Trennung zwischen „Rechtssystem“ und „Natur“, weil der Mensch, der dieses Recht gestaltet,
selbst aus den ökologischen Bedingungen hervorgeht, die er zu regulieren versucht. Jede juristische
Entscheidung ist damit immer auch eine Entscheidung über Wasser, Boden, Luft, Lebewesen und über die
Funktionsfähigkeit ökologischer Systeme.
Diese Einsicht ist nicht moralisch, sondern ontologisch: Sie beschreibt die Wirklichkeit,
nicht die Werte. Wenn man sie ernst nimmt, folgt daraus eine andere Form des Rechtsdenkens –
nicht anthropozentrisch, nicht moralisch, sondern systemisch. Ein Recht,
das ökologische Zusammenhänge ignoriert, verliert die Grundlage seiner eigenen Funktionsfähigkeit.
Genau an dieser Stelle setzt die systemische Rechtsentwicklung an. Sie fragt nicht nach
neuen Rechten oder neuen Klageinstrumenten, sondern nach der Funktionslogik eines Rechtssystems,
das inmitten der ökologischen Katastrophe seine eigene Realität begreifen muss.
Das Volksbegehren „Rechte der Natur“ steht auf dieser ontologischen Grundlage.
1. Das Recht ist Teil der Mitwelt – nicht außerhalb von ihr
Recht entsteht nicht im luftleeren Raum. Es ist ein kulturelles Produkt des Menschen –
und der Mensch ist Teil der Mitwelt. Daraus folgt:
Jedes staatliche Handeln greift zwangsläufig in ökologische Prozesse ein.
Wenn das Recht diese Zusammenhänge nicht sieht, verliert es seine Grundlage.
Ein Staat, der die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört, zerstört sich selbst.
Die Trennung zwischen „Umwelt“ und „Recht“ ist also künstlich. Tatsächlich spricht
Art. 20a GG genau davon: Der Staat schützt nicht etwas Äußeres,
sondern die Bedingungen seiner eigenen Fortexistenz.
Das macht Art. 20a zu keinem Programmsatz, sondern zu einem
ontologischen Rückgrat eines Rechtsstaates, der inmitten der Klimakatastrophe
und der ökologischen Katastrophe bestehen will.
2. Funktionsschutz statt Einzelfalllogik
Die juristische Tradition prüft Schäden oft punktuell:
„Ist hier ein Eingriff messbar?“ – „Entsteht ein konkreter Schaden?“
Die Mitwelt funktioniert jedoch prozesshaft – hydrologisch, biologisch,
thermodynamisch und kumulativ. Ein Recht, das diesen prozesshaften Charakter nicht berücksichtigt,
verfehlt die Realität.
Funktionsschutz bedeutet:
Das Recht prüft nicht nur Ereignisse, sondern ökologische Zusammenhänge. Es fragt:
– Wie wirkt dieses Verwaltungshandeln auf das ökologische Gesamtgefüge?
– Welche Funktionsrisiken entstehen für Moore, Auwälder, Wasserhaushalte?
– Welche Rückwirkungen ergeben sich auf Kreisläufe, Speicherfähigkeit, Resilienz?
Funktionsschutz ist kein Luxus. Er ist die logische Folge der ontologischen Lage:
Der Staat entscheidet innerhalb derselben Mitwelt, von der seine eigene Existenz abhängt.
3. Braucht die Natur eigene Rechte?
Die Idee, der Natur eigene Rechte zu geben, entstand aus einem Mangel:
weil die Rechtssysteme die Mitwelt lange als Objekt, Ressource oder „Sache“ behandelt haben.
Doch wenn wir die ontologische Lage ernst nehmen – dass Mensch und Recht Teil der Mitwelt sind –,
dann braucht die Natur keine künstliche „juristische Person“, um geschützt zu werden.
Was sie braucht, ist eine Rechtsordnung, die die Funktionsfähigkeit der Mitwelt
als Grundlage aller Freiheit anerkennt.
Rechte der Natur sind in diesem Verständnis kein neues Klageinstrument,
sondern eine verfassungslogische Klarstellung:
dass die natürlichen Lebensgrundlagen nicht länger „Verfügungsmasse“ sind,
sondern die Bedingung für alles Menschliche.
Das Volksbegehren „Rechte der Natur“ setzt genau hier an:
Es macht sichtbar, was das Recht ohnehin erkennen muss.
4. Systemische Rechtsentwicklung – die praktische Konsequenz
Aus dieser ontologischen Einsicht folgt eine Methode, die bestehendes Recht nutzt,
um den Staat an seine Schutzpflicht zu erinnern – präventiv, nicht reaktiv.
Sie basiert auf drei Prinzipien:
(1) Prävention statt Reaktion
Der Staat darf nicht warten, bis Schäden eingetreten sind.
Er muss Funktionsrisiken frühzeitig erkennen.
Das ist die Konsequenz aus Art. 20a GG.
(2) Selbstkorrektur statt Konfrontation
Die Verwaltung prüft ihre eigenen Entscheidungen am Maßstab der Verfassung –
nicht erst, wenn ein Gericht sie dazu zwingt.
§ 13 VwVfG wird zur verfassungsgeleiteten Erinnerung dieser Pflicht.
(3) Resonanz statt Abwehr
Hinweise auf ökologische Risiken sind kein Angriff,
sondern Teil rechtsstaatlichen Lernens. Das System reagiert,
indem es prüft, abwägt, nachjustiert – nicht aus Moral, sondern aus Funktionslogik.
Systemische Rechtsentwicklung ist damit kein neues Spezialverfahren,
sondern die Wiederverbindung von Rechtsstaat und ökologischer Realität.
5. Der Zentralsatz – und was er für die Rechte der Natur bedeutet
Am Ende lässt sich die ganze ontologische Lage in einem Satz bündeln:
Weil der Mensch Teil der Mitwelt ist – und das Recht Teil des Menschen –
ist das Recht immer auch Teil der Mitwelt.
Daraus folgen drei Konsequenzen:
– Das Recht kann die Mitwelt nicht schützen, ohne sich selbst mitzudenken.
– Verwaltungshandeln muss ökologische Funktionen mitprüfen.
– Eine Verfassung, die den Menschen schützt, muss die Mitwelt als Grundlage dieser Freiheit klar anerkennen.
Das Volksbegehren „Rechte der Natur“ bringt diese Einsicht in einen klaren Satz
bayerischen Verfassungsrechts. Es fordert nichts „Zusätzliches“ – es formuliert das,
was der Rechtsstaat im Zeitalter der ökologischen Katastrophe ohnehin lernen muss:
Er ist Teil des Lebens, das er schützt.