Weltweit gibt es Einzelbeiträge, Untersuchungen und Vorschläge zu den Rechten der Natur schon seit den 1980er Jahren. In der internationalen Literatur zur Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und politischen Ökologie sind sie seither inhaltlich gut erschlossen. Aber erst durch ihre Anerkennung in der Verfassung Ecuadors (2008) und durch Gerichtsurteile und Gesetzesänderungen in verschiedenen Ländern ist eine öffentliche Diskussion ausgelöst worden. Dies hat die RdN populär gemacht, aber auch zu Vereinfachungen, Missverständnissen und Polarisierungen geführt.
Als Begriff sind die „Rechte der Natur“ ein zweischneidiges Schwert. Rechte passen ins Bild der westlichen Rechtstradition, die sich auf individuellen Rechten gründet. Wer Rechte hat, zählt, wer keine Rechte hat, zählt nicht. Vergessen wird in diesem Kontext, dass es keine Rechte ohne Pflichten geben kann und dass auch Menschenrechte in ihrer Wirksamkeit von entsprechenden Pflichten abhängig sind (wie z.B. in den Haager Grundsätzen von 2018 ausgedrückt). Aus der „Pflichtvergessenheit“ von Rechten erwächst die Gefahr, dass Rechte der Natur als bloße Erweiterung des Kataloges individueller Rechte (von natürlichen oder juristischen Personen) missverstanden werden. Dies kann zu wenig hilfreichen Abwägungen zwischen konkurrierenden Individualrechten führen. Ein mit Rechtssubjektivität ausgestatteter Fluss etwa oder Landschaftsverbund oder ein Tier steht dann in direkter Opposition zu den Eigentumsrechten z.B. eines Industriekonzerns. In Einzelfällen kann dies durchaus funktionieren, birgt aber das Risiko, ökologische Realitäten und Zusammenhänge zu übersehen und damit einer grundlegenden Veränderung des Mensch-Naturverhältnisses im Wege zu stehen.
Aus umweltethischer Sicht ist das Konzept der Rechte der Natur sinnvoll, soweit es der Überwindung westlicher Anthropozentrik dient. Im Zentrum sollte nicht der Mensch als solcher stehen – schon gar nicht die westlich-individualisierte Person -, sondern die Mensch- Naturbeziehung, so wie sie nach wie vor in vielen, zumal indigenen, Kulturen verstanden wird, aber auch zur vor-industriellen westlichen Kulturgeschichte gehört. Aus historisch philosophischer Sicht kann diese Beziehung entweder dualistisch, d.h. kategorisch getrennt, oder dialektisch, d.h. voneinander abhängig, gedacht werden. In der vorherrschenden Tradition des Dualismus erscheinen Anthropozentrik und Ökozentrik als Gegensatzpaar, in dem ökozentrisches Denken als entweder unmöglich oder verwirrend gedeutet wird. In einem dialektischen bzw. ganzheitlichen Denkmodus ist dagegen nicht nur alles miteinander verbunden, sondern es sind die Beziehungen selbst – nicht „der Mensch“ oder „die Natur“ -, die im Vordergrund stehen. In der Wissenschaft sind diese Wechselbeziehungen Gegenstand der Ökologie (soweit sie anthropogene Ein- und Rückwirkungen einbezieht). Diese relationale Sichtweise muss zur Grundlage gesellschaftlicher Entwicklung und ihrer normativen Gestaltung werden, gerade auch deswegen, weil sie hilft, dualistische Gewohnheiten hinter uns zu lassen. Die Stärke der ökologischen Ethik ist, dass sie sich gleichermaßen philosophisch und anthropologisch wie naturwissenschaftlich begründen lässt. Auf das System der „Rechte“ angewandt, ist der Begriff „ökologische Rechte“ daher treffender als Rechte der Natur, weil er die Integration von menschlichen und nicht-menschlichen Wechselbeziehungen beschreibt. Für die dringend benötigte ökologische Wende geht es daher auch nicht allein um die Anerkennung von Rechten der Natur – etwa im Bundesnaturschutzgesetz -, sondern um einen „ökologischen Rechtsstaat“ (Bosselmann) oder um ein „ökologisches Grundgesetz“ (Kersten). In diesem Kontext können RdN ein wichtiger Schritt zu einer sozial-ökologischen Transformation sein.
Der Natur Rechte zu geben, kann daher nur ein Anfang sein und auch nur dann, wenn sie konkret-inhaltlich auf Menschen- und Grundrechte bezogen werden. Entscheidend ist, Rechte der Natur als (ökologische) Erweiterungen der drei wichtigsten Grundprinzipien westlicher Demokratien zu begreifen, nämlich Menschenwürde, Freiheit und Eigentum. Menschenwürde ohne Achtung und Beachtung der Natur (in all ihren Lebensformen) bleibt inhaltsleer angesichts der Tatsache, dass der Mensch ohne seinen Naturzusammenhang nicht existieren kann. Ebenso ist wirkliche Freiheitsausübung nur innerhalb real vorhandener ökologischer Spielräume möglich; deren Beachtung ist daher nicht freiheitsbegrenzend, sondern freiheitsbegründend. Und Eigentum ohne Sozial- und Ökologiegebundenheit macht Reiche noch reicher, Arme noch ärmer und wirkt letztendlich gesellschaftszerstörend. Rechte der Natur stehen also nicht neben den Menschenrechten und nicht in Konkurrenz zu ihnen, sondern dienen zu ihrer inhaltlichen Neubestimmung. Das traditionelle, von der Natur getrennte Menschenbild wird auf ein seiner Naturzugehörigkeit bewusst gewordenes Menschenbild erweitert. Dies ist zwar auch ohne RdN denkbar, wird aber durch einen ernsthaft geführten RdN-Diskurs entscheidend befördert.
Über den bestmöglichen Weg zu einer Verankerung von Rechten der Natur lässt sich streiten. Zum Beispiel ist es denkbar, dass die Initiative für einen Volksentscheid über die Änderung der Bayerischen Verfassung einen Durchbruch bedeutet, von anderen Bundesländern nachgeahmt wird und schließlich auch die Ebene des Grundgesetzes erreicht. Oder die derzeitige Bundesregierung wird ihrem Führungsanspruch endlich gerecht und leitet eine Verfassungsdiskussion ein, etwa wie es damals in Ecuador oder in Chile oder nun in Neuseeland (mit seiner grundlegenden Reform des Umweltrechts) geschehen ist. Vielleicht ist es auch schon ein wichtiges Zeichen, wenn das BNatSchG erweitert wird. Immerhin definiert § 1(1) das Ziel, Natur und Landschaft auf Grund „ihres eigenen Wertes“ (und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen) zu schützen. Was noch immer fehlt, ist die ökologische Dimension. Natur und Landschaft sind nicht einzelne Gebiete (Biotope, geschützte Gewässer und Artenvielfalt), sondern vernetzte Ökosysteme, die alle Lebensformen, also auch den Menschen, einschließt. Das zentrale Ziel – nicht nur des Naturschutzes, sondern des Umweltschutzes insgesamt – sollte daher die Erhaltung der Integrität der ökologischen Systeme sein wie dies z.B. in Neuseeland im „Natural and Built Environment Act“ (verabschiedet im August 2023) geschehen ist.
Dieser hier angedeutete Ansatz würde auch dazu führen, dass ein zentrales Versprechen des internationalen Umweltrechts eingelöst wird, nämlich die Erhaltung der Integrität der Ökosysteme der Erde. In über 25 internationalen Umweltabkommen ist ökologische Integrität als übergeordnetes Ziel formuliert, z.B. im Grundsatz 7 der Rio Erklärung von 1992 („die Gesundheit und Integrität der Ökosysteme der Erde zu erhalten, zu schützen und wiederherzustellen“), aber auch im Pariser Klimaabkommen (Präambel, Art. 4 und 6). Was fehlt, ist der politische Wille der Nationalstaaten, dieses Prinzip als Grundvoraussetzung einer nachhaltigen Entwicklung zu begreifen. Deutschland als viertgrößtes Industrieland könnte hier eine wichtige Vorreiterrolle einnehmen. Das Prinzip der ökologischen Integrität ist deshalb so erfolgsversprechend, weil es nicht auf bloße Ressourcensicherung (z.B. Ökosystemfunktion) zielt, sondern auf Selbstorganisation und Regeneration von Ökosystemen (um ihrer selbst Willen). Damit werden anthropozentrisch-verkürzte Motivationen überwunden und eine Perspektive eröffnet, die (westlichen) Rechtssysteme bisher nicht zugelassen haben, nämlich eine wirksame sozialökologische Transformation.
Der verfassungsrechtliche Kern einer solchen Transformation ist ein Konzept von Grund- und Menschenrechten, das individuelle Freiheit nicht in einen Gegensatz zu den RdN setzt, sondern im Gegenteil durch die Rechtssubjektivität der natürlichen Mitwelt menschliche Freiheit neu definiert und dadurch im eigentlichen Sinne erst ermöglicht. Die (westlichen) Rechtssysteme haben diese Perspektive bisher weitgehend ignoriert. Im Hinblick auf die ökologische Krise und im Zeitalter des Anthropozän sind ökologieblinde Rechtssysteme deshalb zum Scheitern verurteilt. Letztlich berauben sie Menschen ihrer Überlebensfähigkeit. Dies wird sich erst ändern, wenn Eigentum nicht mehr ökologieblind und damit naturzerstörend wirkt, sondern ökologisch eingebunden wird. Der politische Diskurs zu den Rechten der Natur ist längst überfällig und muss dringend geführt werden, weil er zu einer sozial-ökologischen Transformation führen kann. In der Sache geht es um die Verankerung der RdN im Grundgesetz, so wie vom Netzwerk Rechte der Natur vorgeschlagen. „Im Namen der Natur“ ist die Bundesregierung aufgerufen, diesem Vorschlag nachzugehen und praktische Schritte zu unternehmen, wie er auf verfassungs- und einfachgesetzlichen Ebenen umgesetzt werden kann. Berlin, 22. November 2023
Klaus Bosselmann ist Rechtsprofessor an der University of Auckland, Neuseeland. Er ist Vorsitzender der Ecological Law and Governance Association (ELGA) und leitete bis vor kurzem das New Zealand Centre for Environmental Law. Links & Literatur Online-Dossier “Rechte der Natur" – Global Assembly: https://www.globalassembly.de/rechte-der-natur Netzwerk Rechte der Natur: https://www.rechte-der-natur.de/ Bayerisches Volksbegehren Rechte der Natur: https://gibdernaturrecht.muc-mib.de/ Klaus Bosselmann (1992).Im Namen der Natur – Der Weg zum ökologischen. Rechtsstaat.Scherz. Klaus Bosselmann (2015). Earth Governance: Trusteeship of the Global Commons Edward Elgar Publishing. Jens Kersten (2022): Das ökologische Grundgesetz. C.H.Beck
Klaus Bosselmann
Sieben Punkte zu den Rechten der Natur
1. Begriffsunschärfe der „Rechte der Natur“
2. Zweischneidigkeit
3. Der ökologische Rahmen der Rechte der Natur
4. Ökologische Erweiterung von Grundrechten
5. Der Weg zum ökologischen Recht
6. Das Prinzip der ökologischen Integrität
7. Rechte der Natur als Instrument einer sozial-ökologischen Transformation
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