Der Milliarium Aureum, ein Denkmal, das im Jahr 20 v. Chr. von Kaiser Augustus auf dem Forum im antiken Rom errichtet wurde, markierte den Ausgangspunkt aller römischen Straßen und unterstrich die zentrale Position der Hauptstadt. Von Rom aus führten die wichtigsten Straßen des Römischen Reiches. Heute, in Anlehnung an das Sprichwort „alle Wege führen nach Rom“, lässt sich sagen: Alle Wege führen zu den Rechten der Natur – sowohl als Ziel als auch als Ausgangspunkt. Und das geschieht auf vielfältige Weise und von immer mehr Orten weltweit – durch den Druck der Tatsachen.
Das Recht ist ein permanentes Feld der Auseinandersetzung, und es war stets schwierig, Fortschritte bei Umweltrechten zu erzielen – Rechte, die dem Menschen ein würdiges Leben ermöglichen sollen. Das Verhältnis der Rechtsprechung zur Natur war dabei stets komplex.
Was wir anerkennen müssen, um radikale Veränderungen zu bewirken, ist: Der gegenwärtige Rechtsrahmen, im Wesen anthropozentrisch, stößt an Grenzen. Er stellt die Natur unter die Herrschaft von Eigentumsrechten – sei es durch radikale Privatisierungstendenzen oder durch staatliche oder gemeinschaftliche Kontrolle. Mutter Erde wurde zu einem Objekt der Aneignung, zu einem Ding. Eine lange, tragische Geschichte.
Die Debatte, ob nicht-menschliche Wesen Rechte haben können, findet genau in diesem historischen Rahmen statt. Im Mittelalter bis zur Renaissance – also zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert – waren Gerichtsverfahren gegen Tiere, insbesondere Schweine, die Kinder getötet oder gefressen hatten, nicht ungewöhnlich. Dies wurde damit gerechtfertigt, dass man ihnen ein Stück Seele zuschrieb…
Heute jedoch erleben wir weitreichendere Entwicklungen. Es wird ein Wiederanknüpfen an die Natur gefordert – sie wird sogar als Ursprung aller Rechte begriffen. Es geht um einen Übergang von Umweltrechten – abgeleitet aus den Menschenrechten – hin zu den Rechten der Natur. Diese schließen sich nicht aus, sie ergänzen und verstärken einander. Und vorangetrieben wird dieser Wandel meist durch zivilgesellschaftliches Engagement.
Der Gedanke, der Natur Rechte als Subjekt zuzusprechen, bedeutet eine neue Form des menschlichen Umgangs mit ihr und ihren Bestandteilen. Gefordert ist ein Paradigmenwechsel vom Anthropozentrismus hin zu einem sozial-biozentrischen Verständnis. Im Zentrum dieses neuen zivilisatorischen Paradigmas steht der Abschied von der Natur als bloßem Ressourcenlager und Müllhalde.
Die Anerkennung der Rechte der Natur bedeutet nicht, dass sie unberührt bleiben muss, sondern dass ihre Existenz, ihre Lebenszyklen, ihre Struktur, Funktionen und evolutionären Prozesse umfassend respektiert, erhalten und regeneriert werden müssen – also der Schutz der Lebenssysteme. Die Natur ist nicht länger ein Objekt zur Ausbeutung oder bloße wirtschaftliche Ressource.
Ziel ist eine Gesellschaft, die auf Harmonie zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen basiert, ebenso wie auf innerer Harmonie und zwischenmenschlichem Gleichgewicht. Diese Sichtweise ist tief im Weltverständnis vieler indigener Völker verwurzelt. Sie bedeutet jedoch keine romantische Rückkehr zur „Steinzeit“, sondern ein realistisches Lernen aus der Geschichte – etwa dem Untergang früherer Zivilisationen durch Zerstörung ihres Lebensraums.
Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn wir eine Gesetzgebung und Rechtsprechung entwickeln, die unsere Lebensgrundlage schützt: Mutter Erde, die Pacha Mama. Es ist höchst aufschlussreich, dass sich das juristische Denken verändert, seit die Rechte der Natur eingeführt werden – erkennbar z. B. an der Aufnahme biologischer Begriffe wie Lebenszyklen oder natürliche Kreisläufe in nationale Gesetzgebungen und internationale Abkommen.
Diese Debatte wird weltweit immer präsenter. Der entscheidende Durchbruch erfolgte mit der ecuadorianischen Verfassung von 2008, in der die Rechte der Natur erstmals auf nationaler Ebene verankert wurden – ein Erfolg durch breite zivilgesellschaftliche Beteiligung. Die Grundlage dafür liegt tief im Weltbild der indigenen Völker Ecuadors, die Pacha Mama nicht als Metapher, sondern als reale Mutter verstehen.
In Ecuador fand bei der verfassungsgebenden Versammlung ein juristisches „Mestizaje“ statt – ein produktiver Dialog zwischen indigenem Wissen und moderner Rechtswissenschaft. Diese Vision wird heute auch von zahlreichen Jurist*innen weltweit geteilt und weiterentwickelt.
Mittlerweile existieren entsprechende Gerichtsurteile und Gesetzesinitiativen in rund 40 Ländern auf allen Kontinenten. Einige Beispiele:
Juristen aus verschiedenen Disziplinen – darunter Biologie, Philosophie, Theologie (z. B. Papst Franziskus’ Enzyklika Laudato Si’) – sowie eine globale Bewegung setzen sich zunehmend vernetzt für diese Rechte ein.
Die Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt bedeutet eine ähnlich tiefgreifende Umwälzung wie die von Kant geforderte „kopernikanische Wende“ in der Philosophie – nur noch umfassender. Wir Menschen sind nicht außerhalb der Natur – wir sind Natur. Und sie ist es, die unser Existenzrecht überhaupt erst begründet.
Das verlangt ein neues Ethos des Lebens. Es reicht nicht, die Welt nur mit anderen Augen zu sehen – wir müssen die anthropozentrischen Gesellschaften an der Wurzel verwandeln. Nur durch einen Dialog mit der Natur und untereinander können wir eine neue, lebensbejahende Welt schaffen.
Die Anerkennung der Rechte der Natur in einer Verfassung ist ein anthropozentrischer Akt – doch er verpflichtet uns zu bioprozessualem Handeln: Keine ausbeuterische oder zerstörerische Nutzung der Erde mehr, nur ein ökologisch tragfähiger Umgang. Menschliche Gesetze müssen mit den Gesetzen der Natur übereinstimmen. Die Rechte der Natur sind keine bloßen juristischen Konstrukte, sondern Ausdruck realer Lebensbedingungen – sie sind interdisziplinär und ganzheitlich.
Diese Erkenntnis führt zur „kopernikanischen Wende“ in Recht, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft – vor allem aber in der Kultur. Sie besagt: Alle Lebensformen besitzen einen inneren Wert und haben daher das Recht, ihre eigenen Lebensprozesse zu entfalten. Menschen erkennen diesen Wert – doch er existiert unabhängig von uns. Daher spricht man von „intrinsischem Wert“.
So wie es verboten ist, Menschen zur Ware zu machen, muss dies auch für die Natur gelten. Diese neuen Paradigmen drängen auf einen Ausstieg aus der Warenlogik und Planwirtschaft – hin zu einer harmonischen Beziehung mit der Natur, deren Rhythmen unsere Handlungen leiten sollen.
Es ist höchste Zeit zu erkennen: Natur ist die Grundlage unserer Existenz – und damit auch aller kollektiven und individuellen Rechte, inklusive der Freiheit. Freiheit ist nur möglich im Rahmen der Rechte anderer – und das schließt die Rechte der Natur mit ein. Wer an die Enkel denkt, erkennt: Ihre Freiheit hängt vom Schutz der Natur ab. Der deutsche Jurist Klaus Bosselmann formulierte es treffend: „Ohne Rechte der Natur ist Freiheit eine Illusion.“
Gleichzeitig müssen wir patriarchale und koloniale Strukturen überwinden, die Gewalt und Ausbeutung reproduzieren. Die ökologischen und kolonialen Schulden müssen beglichen werden. Das globale Wirtschaftssystem – mit seinen Ausbeutungsinstrumenten wie der Auslandsschuld – muss sich ändern.
Wie bei den Menschenrechten wird es auch hier Rückschläge geben. Doch Hoffnung bedeutet nicht bloßen Optimismus – sondern das Wissen, dass unser Tun Sinn hat, unabhängig vom Ergebnis.
Im Einklang mit der widerstandsfähigen, nährenden Mutter Erde – wenn wir den Frieden mit ihr nicht wiederherstellen, wird es auch keinen Frieden für uns geben.
„Vielleicht gibt es seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte keine größere Sache, als den Kampf für die Rechte der Natur.“
– Fernando „Pino“ Solanas, 2015